Kritik: Alt-J – This Is All Yours

Das Debütalbum von Alt-J schaffte es vor zwei Jahren auf magische Weise, jede nur denkbare musikalische Idee und jedes Genre, welches sich irgendwie mit dem Label Gitarrenmusik versehen lässt, zu wunderbaren Songs zu verschmelzen. Dabei fühlte man sich zu keiner Sekunde orientierungslos oder gar verloren. Ganz im Gegenteil: man wurde gepackt und mitgenommen von diesen trotz aller Vertracktheit eingängigen Popsongs.

Für den Nachfolger “This Is All Yours” hätte die Band ihre Erfolgsformel einfach wiederholen können, und damit wären sowohl die Fans als auch das Plattenlabel ziemlich glücklich gewesen. Stattdessen irritierten sie durch die ersten Songs des neuen Albums: das federleichte “Hunger Of The Pine” war ein dermaßen zurückhaltender Song, dass er als erster Vorbote wenig Kontur bot. Doch, halt, da war ja dieses Miley Cyrus-Sample über welches sich ein paar Fans echauffierten. Wie können sie nur! Ausverkauf! Kurz darauf ließen sie dann “Left Hand Free” auf die Musikwelt los, und die Irritation war groß, denn dieser Song klang ganz anders und hatte einen starken amerikanischen Einfluss. Als sich dann auch noch das Haken schlagende und beinahe auseinander fallende “Every Other Feckle” zum Vorab-Trio gesellte, kannte ich mich gar nicht mehr aus. Was kommt da bitte für ein Album auf uns zu?

Die Lösung ist so einfach wie aufregend: ein ganz anderes als das Debüt. Natürlich erkennt man ohne Umschweife, dass es sich hier um dieselbe Band handelt, aber die Stimmung ist eine andere. Alt-J haben schon immer den abseitigen Pfad dem geraden Weg vorgezogen, aber hier ist alles noch eine Spur seltsamer und eigenwilliger. Drei der Songs handeln von Nara, einer japanischen Stadt in deren Park über eintausend wilde Hirsche frei herumlaufen (vielleicht ein Sinnbild für die kreativen Freiheiten, die sich das Trio genommen hat?). „Arrival in Nara“ setzt nach dem verzwickten Intro mit leisen Gitarren und getupften Pianoakkorden den Grundtenor für die kommenden Songs. Das folgende „Nara“ beginnt mit Glocken, einem Halleluja und einem dieser schwerfälligen Beats, die für diese Band so typisch sind. Elektronische Beats, zischende Hi-Hats und pastoraler Gesang beschließen die finalen zwei Minuten von “Leaving Nara”.

Zwischen diesen drei Songs passiert eine Menge. Wundersames, einfallsreiches, unerhörtes. Die zusammengeschnipselten Vocals von Conor Oberst, Sivu und Lianne La Havas in dem folkigen “Warm Foothills” gehören mit Sicherheit zu den schönsten Gesangslinien des Jahres, denn sie ergänzen sich, übernehmen und führen fort, was der andere begonnen hat. Das rollende “The Gospel Of John Hurt” schwebt erhaben ein paar Meter über dem Boden, der zweite Teil von “Bloodflood” verdichtet die Songidee des Debüts und überführt sie in höhere Sphären.

Aber es gibt leider auch ein paar Schattenseiten auf diesem erhaben strahlenden Werk. Das kurze Flöten-Intermezzo „Garden Of England“ ist so irritierend wie überflüssig, das akustische “Pusher” ist so unaufgeregt, dass es mich fast aus dem magischen Sog heraus zieht und das an sich großartige “Left Hand Free” wirkt im Kontext des Albums wie ein Fremdkörper.

Vielleicht sollte man „This Is All Yours“ nicht als Kontrapunkt zum Debüt betrachten, sondern eher als die andere Seite ein und derselben Medaille. Diese andere Seite überzeugt allerdings nicht jeden, dass zeigen schon die sehr unterschiedlichen Reviews. Lasst euch und der Band ein wenig Zeit, setzt euch in den imaginären Park in Nara und schaut den Hirschen zu. Und vielleicht erlebt ihr am Ende dann diesen magischen Moment, wenn die Band plötzlich hinter euch steht und euch zuraunt: “This Is All Yours”.

8/10


Kommentare

Eine Antwort zu „Kritik: Alt-J – This Is All Yours“

  1. Was für ein Album! Seit Freitag höre ich es mindestens 3 Mal täglich. Mindestens auf Augenhöhe mit An Awesome Wave. So langsam kann ich auch die 10/10 auf Plattentests nachvollziehen. Ich bin begeistert!

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