European Sex habe ich vor einem halben Jahr durch Zufall bei Marti Fischer entdeckt. Mir gefiel der Song Fast da so gut, dass ich gleich einen kurzen Artikel verfasste. Heute erscheint ihre neue Single Blender und ich durfte ihnen ein paar Fragen stellen.
Hallo. Vielen Dank, dass ihr euch die Zeit nehmt, mir ein paar Fragen zu beantworten. Könntet ihr euch zu Beginn bitte kurz vorstellen?
Hallo Nico, danke für die Einladung! Wir sind Gabriel, Tino, Leo und Finn, und wir machen unter dem Namen »European Sex«, kurz auch ESX, zusammen Musik.
Ihr habt mir am Anfang geschrieben, dass ihr aus Berlin und München kommt, aktuell aber über Europa verstreut seid. Wie kann ich mir das genau vorstellen?
Über Europa verteilt ist vielleicht etwas übertrieben. Tino und Leo sind aktuell in München, Finn im Ruhrgebiet und Gabriel in Barcelona. Unsere Aufenthaltsorte haben sich die letzten Jahre aber auch öfter mal geändert und daher kam wahrscheinlich diese Aussage.
Wie ist European Sex entstanden?
Das Projekt als solches entstand eigentlich aus einer Sektlaune von Gabriel und Tino. Die beiden waren zu dieser Zeit bereits mit Leo in einer anderen Band aktiv, daher dauerte es nicht lange, bis auch er mit ins Boot geholt wurde.
Finn stieß etwa ein Jahr später hinzu, nachdem er und Gabriel sich während des Studiums kennengelernt hatten. Anfangs haben wir in dieser Formierung einfach ohne großes Ziel Musik gemacht, bis es sich irgendwann ergeben hat, dass genug Material für eine EP da war, die wir dann als »Funkstille« veröffentlicht haben.
Wie seid ihr auf den Namen gekommen? In Zeiten der Suchmaschinen ist der Name ja nicht unbedingt von Vorteil 🙂
Der Name existierte bereits, bevor es die Band überhaupt gab. Leo hatte sich diesen ursprünglich aus dem »Burns European Sex Remix« des Songs »Better Than Love« von Hurts geklaut und immer versucht, den mal irgendwo unterzubringen. Als dann die Idee einer Wave-Band aufkam, haben sich das neue Projekt und der Name schnell zusammengefunden.
„Kurz vor dem Release unserer ersten EP hatten auch wir dann Bedenken mit dem Namen, und mehrere Abende mit Versuchen verbracht herauszufinden, welche Begriffe auf Plattformen wie Instagram oder TikTok »shadow banned« werden, da es natürlich schon wichtig ist als aufstrebende Künstler gefunden zu werden. Uns gefiel der Name jedoch so gut, und im Endeffekt ist er es dann auch geworden.“
Wie würdet ihr euren Musikstil beschreiben? Welche Musiker oder Bands haben euren Sound beeinflusst und inspiriert?
Als ESX gerade im Entstehen war, haben wir vor allem viel Musik aus England gehört, unter anderem The Cure, Joy Division oder Depeche Mode. Daher klangen unsere ersten Songs, die wir nie veröffentlicht haben, damals auch noch deutlich anders. Parallel hatten wir »Soviet Wave« und speziell Molchat Doma für uns entdeckt und begannen immer mehr Elemente aus diesem Genre bei uns zu integrieren.
Das Konzept »Soviet Wave auf Deutsch« traf zeitlich recht glücklich auf das Explodieren der »Neue Neue Deutsche Welle«-Szene und obwohl wir das als Bezeichnung für uns nicht ablehnen würden, wollen wir uns trotzdem nicht auf eine bestimmte Richtung festlegen. Uns gefällt der Begriff »European Wave« eigentlich sehr gut, was so als Genre gar nicht wirklich existiert, uns aber die Möglichkeit lässt ungebundener zu arbeiten. Man sollte sich unsere Musik aber am besten selbst mal anhören, da uns es schwer fällt, diese wirklich treffend zu beschreiben.
Gibt es bestimmte Themen oder Erlebnisse, die eure Songtexte prägen?
Nicht direkt. Unsere Texte ergeben sich oft aus der Stimmung, die jeder Song in uns auslöst. Es geht uns nicht unbedingt darum, ausgefeilte und stringente Geschichten zu erzählen, die in sich schlüssig sind. Stattdessen versuchen wir, Gefühle einzufangen und sie so unverstellt wie möglich auszudrücken. Das führt manchmal zu einem wilden Durcheinander, aber das hat man ja oft mit Gefühlen, vor allem wenn es um Frustration, verlorene Liebe, Gefühlskälte, Angst und Traurigkeit geht.
Wie verläuft der kreative Prozess in eurer Band? Wer schreibt die Songs und wie entstehen sie?
Durch die geographische Distanz ist es oft nicht möglich, vor Ort gemeinsam an einem Song zu arbeiten. Deshalb bereiten meistens Tino oder Leo kurze Instrumental-Demos vor, die dann in unserer gemeinsamen Dropbox gesammelt werden. Ab und zu findet sich darunter dann auch mal ein Teil, das alle in der Band irgendwie abholt, womit es dann vorrangig Gabriels Aufgabe ist, sich dazu Text und Melodie auszudenken. Gleichzeitig beginnen die Anderen damit, das Instrumental auszubauen.
In der Regel ist Tino dabei federführend in der Rolle des Produzenten tätig und arbeitet mit Leo an Arrangement und Sound-Design, während von Finn vor allem Bass- und gelegentlich auch Gitarrenparts beigesteuert werden. Die jeweiligen Zwischenstände landen dann erneut in der Dropbox und werden in regelmäßigen Videochats besprochen, so können alle am Entstehungsprozess teilnehmen. Gesangsaufnahmen wie auch Mixing finden in München statt, oft nimmt sich Gabriel aber auch selbst in Barcelona auf.
Wie haben aktuelle Ereignisse oder gesellschaftliche Entwicklungen eure Musik oder eure Perspektiven beeinflusst?
Unsere Musik, aktuell zumindest, entsteht eigentlich komplett ohne Agenda. Wie bereits oben erwähnt, ergeben sich die Texte oft daraus, was unsere Songskizzen für Gefühle in uns wachrütteln, vor allem bei Gabriel, der für den Großteil der Lyrics zuständig ist. Auch »schwedisches Songwriting« haben wir schon betrieben, wo wir versuchen Zeilen zu finden, die einfach vom Wortklang gut unseren Platzhaltertext ersetzen, wo die Bedeutung der Worte dann wirklich in den Hintergrund tritt. Da wird dann gerne auch mal zu Hilfsmitteln wie einem Reimlexikon gegriffen.
Dass sich das allgemeine Weltgeschehen auch mal unbemerkt in die Lieder mit einschleicht ist zwar fast nicht zu vermeiden, bisher haben wir aber noch nie versucht konkret »gesellschaftskritische« oder »tagesaktuelle« Songs zu schreiben. Beispielsweise der Name des Liedes »Roter Platz« ist rückblickend vielleicht etwas unglücklich gewählt, da es in diesem Song eigentlich nur um Farben geht.
Welche Herausforderungen habt ihr als noch relativ unbekannte Band bisher erlebt?
Die erste große Hürde für jeden neuen, unbekannten Künstler ist es wahrscheinlich, das erste mal aus der »Freunde und Familien«-Blase auszubrechen. Zum Release unserer Single »Fast Da« hatten wir den Song an diverse Outlets verschickt, in der Hoffnung irgendwo mal erwähnt zu werden und auf diese Art etwas Aufmerksam zu erzeugen.
Der YouTuber Marti Fischer hat den Song dann tatsächlich in einem Review gefeatured und durch die wahnsinnig positive Resonanz seiner Zuschauerschaft hat uns das einen ersten kleinen Durchbruch ermöglicht. Unsere Musik wurde davor wirklich ausschließlich von Leuten gehört, die wir alle persönlich kennen.
Unsere Fanbase, wenn man so will, ist zwar immer noch sehr überschaubar, aber je mehr Menschen einen kennen, um so einfacher wird es, den kleinen Erfolg »rückkoppeln« zu lassen. Wenn zum Beispiel auf Spotify keiner deine Musik hört, kommst du da auch in keine editorielle Playlist und ohne Playlistenplatzierungen ist es unglaublich schwer, auf Spotify — der mit am wichtigsten Plattform aktuell — neue Hörer zu finden. Das ist ein richtiger Catch-22 und ohne etwas Glück kann man da auch kaum was machen.
Erschwerend kommt natürlich noch dazu, dass Kunst die letzten Jahre extrem durch digitale Technik und vor allem das Internet demokratisiert wurde. Auch uns gibt es in dieser Form nur, weil wir fast alles selber, ohne wirkliches Budget machen können. Das hat allerdings auch zur Folge, dass es unglaublich viel neue, sehr gute Musik gibt, was zwar insgesamt eine sehr positive Entwicklung ist, aber natürlich auch eine gigantische Konkurrenz darstellt, mit der man, gerade online, um Aufmerksamkeit ringt.
Wie empfindet ihr die heutige Musikindustrie und welche Rolle spielt das Internet in eurer Karriere? Gibt es positive oder negative Erfahrungen, die ihr im Umgang mit der Branche gemacht habt?
Da wir momentan unsere Musik komplett eigenständig produzieren und veröffentlichen und auch sämtliches Begleitmaterial selbst erstellen, hatten wir bisher noch nicht viel direkten Kontakt zur Branche als solches.
Was man aber sagen kann ist, dass das Internet für uns absolut essentiell ist, da traditionelle Kanäle wie Radio oder Fernsehen ohne Label-Unterstützung oder irgendeine Form von Online-Following einem kaum zugänglich sind.
Nichtsdestotrotz sind Plattformen wie Spotify oder Apple Music aber immer noch ziemlich fest in der Hand der großen Labels, die editoriell einfach mehr hervorgehoben und von den jeweiligen Algorithmen stark bevorzugt werden. Auch die Ausschüttungen der Streamingseiten gehen zu unverhältnismäßig großen Teilen an die Majors, zum einen aufgrund derer riesigen Werkkataloge aber auch, da diese in einer ganz anderen Verhandlungsposition sind im Vergleich zu den Millionen an Einzelkünstlern.
Die Option, Musik zu machen und zu veröffentlichen, ist heute daher durchaus jedem offen, aber daraus mehr als ein sehr teures Hobby zu machen ist nicht wirklich einfacher geworden. Selbst mit Bandcamp, wo der gesamte Ertrag unserer Verkäufe in Gesamtheit an uns geht, und trotz der Tatsache, dass wir so gut es geht alles selber machen, decken wir kaum die Kosten, die wir mit ESX haben. Es ist also auch heute immer noch sehr wenigen Artists vorbehalten tatsächlich rein von Musik leben zu können.
Eure neue Single “Blender” ist gerade erschienen. Wie ist der Song entstanden und worum geht es da?
Blender basiert wie viele unserer Songs auf einer kurzen Instrumental-Demo, die Tino Anfang in unsere Dropbox geladen hat. Im Mai gab es die erste Fassung mit Gesang, zu der Zeit noch mit englischem Text, uns wurde aber schnell klar, dass der Song auf Deutsch deutlich besser funktioniert. Damit war »Blender« entstanden.
Es ist einfach der Tatsache geschuldet, dass wir in dieser Phase nur remote miteinander arbeiten konnten, viele Versionen und einiges an Zeit gebraucht um Inhalt und Musik fixieren zu können und erste Ende August gab es den Track in der Form, wie er auch jetzt zu hören ist.
Ein Song, in dem es möglicherweise um das Phänomen des »Gaslightings« geht. Das lyrische Ich besingt ein zerbrechendes Verhältnis zu einer Person und offenbart dabei eine, vorsichtig ausgedrückt, merkwürdige Wahrnehmung dieser Beziehung.
Insgesamt ist uns der Song ziemlich Pop geraten, behält trotzdem unsere ESX-typischen Merkmale: Up-Tempo, Drum Machines, LoFi Synths, Gitarren mit Chorus und viel Reverb. Das Release stellt jedoch keinen allgemeinen Shift in der Musik, wie wir sie weiterhin machen wollen, dar und die Songs an denen wir aktuell arbeiten sind wieder deutlich düsterer und weniger poliert. Der diesmal sehr strahlende Sound passt aber eigentlich gut zur Thematik und dem Namen »Blender«.
Welche Ziele habt ihr als Band für die Zukunft? Gibt es bestimmte Projekte, auf die sich eure Fans freuen können?
Für 2024 haben wir bereits einiges an Material in Vorbereitung und ohne jetzt schon zu viel verraten zu wollen, wird es gleich Anfang des Jahres unter anderem neue Musik geben. Auch wollen wir ESX endlich mal auf eine Bühne bringen, was alle freuen dürfte, die uns schon in unseren DMs danach gefragt hatten wo man uns mal live sehen kann. Das haben wir bisher aufgrund der Entfernung zueinander leider noch nicht geschafft, ist aber fest für die nahe Zukunft geplant. Wer informiert werden möchte, sobald es mal einen Termin gibt folgt uns am besten auf Instagram, dort gibt es solche Infos immer als erstes.
Vielen Dank für das Interview!