Seitenwechsel #22 – Mon Petit Chou Chou

Mon Petit Chou Chou aus Gießen und Nürnberg mischen Shoegaze mit Elementen des 2000er Washington DC-Sounds. Sie singen von Träumen, Erinnerungen und Befindlichkeiten von Mittzwanzigern. Die drei mögen u.a. Silver Scooter, The Van Pelt, Slint und Q and not U. 2008 nahmen Mon Petit Chou Chou zusammen mit Marcel Römer (Juli) erste Demos auf, darauf folgten im Mai 2010 weitere Aufnahmen mit Kai Steffen Müller (Mikroboy) für die erste EP, welche im November 2010 erscheint.

Nach einem kurzen Mailwechsel mit Lorenz erklärte dieser sich bereit, einen kleinen Text zu schreiben. Viel Spaß bei diesem sehr interessanten Einblick!

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Lorenz (Mon Petit Chou Chou):

Wir sehen die schimmernde Oberfläche des Musik-Ozeans, die durch viele Blogs, Musikmagazine und soziale Netzwerke täglich neu hergestellt wird. Darunter verbirgt sich ein gewaltiges Archiv. Ich stelle mir vor, dass dieses Archiv unter der Oberfläche sich immer weiter durch die Zeit rollt, wobei ständig Musikpartikel von der Oberfläche aufgenommen werden, während andere sich aus dem Sog lösen und dort hin sinken, wo nerdig leuchtende Fische einsam auf Beute warten. Bis irgendwann ein paar Idealisten – auf eigene Faust oder aus einem institutionellen Kontext heraus – sich wieder daran machen, die am Grund der Tiefsee liegenden Schätze zu heben und sie durch ihre musikjournalistische Intervention wieder an den Sog anzuschließen, durch den sie wieder bis an die Oberfläche gelangen können.

Noch nie war es so einfach, sich wie ein Nerd zu fühlen oder einer zu sein, denn das Internet lässt uns alle zu Nerds werden – ob wir das wollen oder nicht.Für musikgeschichtlich und -ethnologisch interessierte Menschen ist das Internet immer wieder ein Glücksfall. Manchmal stoße ich durch Freunde auf Seiten, wo ich mich mehrere Stunden oder Wochen lang herumtreibe, weil dort Musik angeboten wird, die früher Experten von staatlichen Radiosendern, mikroskopisch kleinen Untergrund-Musikszenen oder Musikethnologen vorbehalten war. Noch nie war es so einfach, sich wie ein Nerd zu fühlen oder einer zu sein, denn das Internet lässt uns alle zu Nerds werden – ob wir das wollen oder nicht.

Da gibt es jemanden in Brooklyn, der nigerianischen Highlife-Kassetten und andere Musik aus afrikanischen Staaten digitalisiert, die er selbst einmal auf Reisen gekauft oder zugeschickt bekommen hat, und diese Musik dann (im Zusammenspiel mit anderen Fans) einordnet und kommentiert. Wer nachvollziehen will, woher wohl ein Teil der Inspiration von Bands wie Vampire Weekend oder Pttrns stammt, der muss sich jetzt nicht mehr auf Derivate wie „Graceland“ von Paul Simon beschränken, sondern kann sich ohne großen Aufwand dieser Musik auch aus einer ‚ethnologischen’ Perspektive nähern.
Da gibt es seit kurzem bei Youtube sehr viele Stunden aus dem musikethnologischen Archiv von Alan Lomax zu streamen, der ab den 1940ern Folksongs festhielt, wie sie zum Beispiel von der Landbevölkerung der Südstaaten performt wurden. Wer den Freak Folk von Joanna Newsom, Devendra Banhart, Animal Collective usw. mit einem neuen Ohr hören möchte, kann sich hierfür etwas Zeit nehmen und muss nicht bei Bob Dylan und Pete Seeger stehen bleiben.
Und da gibt es einen Berliner Comic-Zeichner, der auf seinen Reisen mit Vorliebe Flohmärkte und Ramschläden aufsucht und dort aus unansehnlichen Kisten 7-Inches zieht, die er häufig aus schierer Sammelwut mitnimmt und dann auf seinem Blog zum Thema macht. – Wer sich heute nicht mehr vorstellen kann, welch eine befreiende Wirkung Rock’n’Roll und dann auch Beat auf das geneigte Publikum der 50er und 60er gehabt haben muss, sollte sich dort mal von Erkin Koray „Sana Bir Seyler Olmus“ oder „Kanamam“ von Mavi Isiklar anhören. Elvis und die Beatles werden bei diesem Versuch für Dich nicht sehr hilfreich sein, der türkische Beat vielleicht schon.

Was hat das mit der Lage der Musik-Industrie und der damit verbundenen Existenz von Musikern zu tun? Das weiss ich auch nicht so genau. Ich stelle nur fest, dass ein guter Teil der Musik, die mich in den letzten Jahren fasziniert und beeinflusst hat, vielleicht gar nicht für mich gemacht, sondern höchstens für mich wiederentdeckt und verfügbar gemacht wurde. Und deshalb möchte ich denen danken, die weit gereist und tief getaucht sind, um diese Schätze für uns wieder ins Archiv und zum Teil auch an die Oberfläche zu holen.
Ohne sie müsste ich mir wohl erst gar keine Gedanken darüber machen, was ich mit meiner Musik erreichen kann und will – denn mich fasziniert an Musik schon immer die Geschichte hinter dem Sound, die Suche nach überraschenden Querverbindungen und die unvorhersehbare Wendung in der Rezeption über Jahrzehnte. Ohne diese Faszination für das Abseitige und Abgetauchte, das sich plötzlich im Mainstream finden lässt oder in verschiedenen Untergrund-Genres aufgegriffen wird, würde mir ein wichtiger Impuls fehlen, um selbst ein Instrument in die Hand zu nehmen.

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Infos zu Mon Petit Chou Chou:

Bandcamp – Mon Petit Chou Chou

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Was soll das hier? Wir sitzen auf der einen Seite. Wir hören Musik umsonst, bei Streaming-Anbietern wie last.fm, Spotify, Simfy. Wir kaufen die ein oder andere Platte oder bezahlen für einen Download. Wir gehen auf Konzerte, kaufen Merchandise-Artikel und bezeichnen uns als Fans. Wir lesen Blogs, wir kennen die Hype Maschine und diverse Onlinemagazine. Und, wenn wir ehrlich sind, dann laden wir auch das eine oder ander Musikstück illegal herunter. Das ist unsere Seite.

Und auf der anderen Seite sitzen die Musiker. Denn die Musikindustrie ist genau genommen nur der Vermittler. Sicherlich ein wichtiger Vermittler, der eine Menge falscher Entscheidungen getroffen hat und trifft, und den man mitunter auch verachten kann. Aber auf der anderen Seite sitzt meines Erachtens der Künstler. Und dessen Meinung zur aktuellen Lage der Industrie geht in meinen Augen sehr oft einfach unter. Dabei wäre es doch gerade interessant zu erfahren, wie Musiker heutzutage leben, womit sie ihr Geld verdienen, wieviel Herzblut mit jedem nicht verkauften Album verloren geht, wie anstrengend das dauernde Touren ist, woher das Durchhaltevermögen kommt, warum man sich das überhaupt antut.

Und aus diesem Grund möchte ich die Musiker fragen. Ich bitte ausgesuchte Künstler, auf meinem Blog ihre Meinung kundzutun. Ihre Meinung zu Fans, zu illegalen Downloads, zu ihrem Arbeitsumfeld, ihrer Lebenssituation, der Musikindustrie, dem Musikerdasein. Dabei sind sie in Form und Inhalt völlig frei. Ob das nun ein kurzes Statement ist oder ein Kurzroman, ich mache keine Vorgaben.


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