Es ist für mich immer ein wenig befremdlich, eine Band für mich zu entdecken, die viele andere schon als festen Bestandteil ihres Lebens betrachten. Ich denke dann immer daran, wie seltsam es für mich wäre, wenn jemand sich als erstes Album von The National Trouble Will Finde Me anhört und dann über die Band urteilt. Welche ein Frevel das wäre. Ohne Sad Songs For Dirty Lovers und Alligator kann man diese Band doch gar nicht richtig fassen!
Deswegen beschleicht mich bei solchen Bewertungen immer ein mulmiges Gefühl. Natürlich habe ich vorher ein wenig über Wintersleep gelesen, und zwei Songs von ihnen habe ich dir in den letzten Jahren bereits vorgestellt. Aber richtig beschäftigt habe ich mich mit ihnen nicht. Ich habe weder ihr angebliches Meisterwerk Welcome To The Night Skies noch das letzte Album Hello Hum gehört.
Deswegen habe ich mir ihr neuestes Album The Great Detachment völlig unbefangen angehört. Welche große Trennung hier gemeint ist, entschließt sich meiner Kenntnis. Marius Wurth behauptet frech, dass sich Wintersleep von der Idee trennen, sich jemals neu zu erfinden. Das klingt bissig, ist aber offensichtlich positiv gemeint, denn sonst würde er nicht von einem Glücksfall sprechen.
Wintersleep: zwischen Americana und Indie
Aber ich greife diesen Glücksfall gerne auf, denn dieses Album ist einer für mich. Bereits der epische Opener Amerika ist eine Großtat, verbindet gekonnt Americana mit Indie-Rock für’s Stadion.
„Man darf von der Nummer freilich kein Loblied auf Amerika erwarten, Amerika ist eher Sehnsucht nach einem Ideal, nämlich der beständigen Verbindung von Erde, Freiheit, Liebe und Gesetz und Leben zu sehen. Amerika scheint in diesem Kontext vielleicht als Hoffnung auf dieses uralte Versprechen zu begreifen. Für mich ist der Song der erste Höhepunkt im Musikjahr 2016.“
Das schreibt Christoph bei Lie In The Sound. Da bin ich ganz seiner Meinung. Santa Fa klingt im direkten Anschluss dann nach schillerndem Shoegaze mit Roboterstimme und geballter Faust. Diese Faust sehe ich vor meinem geistigen Auge bei fast allen Songs, die ein wenig mehr aufs Tempo drücken und mit tollen Riffs brillieren. Das ist natürlich ein Rock-Manierismus, aber er passt einfach zu gut.
Aber auch die etwas ruhigeren Töne auf diesem Album wissen zu überzeugen. More Than ist der perfekte Soundtrack für einen Road-Trip, Shadowless untermalt dann die Rast am Aussichtspunkt des Canyons.
Die Stärken dieses Album liegen für mich aber in den schnelleren Nummern. Die klare Nummer 2 hinter Amerika ist für mich Freak Out. Ein zeitloser Song mit einem absolut treffenden Titel. Wäre ich 12 Jahre alt, ich würde mir meinen Tennisschläger schnappen und auf dem Bett mit meiner Ersatzgitarre abrocken.
Bevor ich aber in Begeisterungsstürme ausbreche, hier ein kleiner Dämpfer: ein paar Songs glimmen eher, als das sie Funken sprühen. Territory erinnert mich zu sehr an Lifting Cure, und das abschließende Who Are You ist mir eine Spur zu beliebig und plätschert ein wenig vor sich hin.
Insgesamt ist The Great Detachment von Wintersleep allerdings ein tolles Album geworden, welches mich immer wieder packt und bei mir die Lust auf die Entdeckung der älteren Sachen weckt.
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